Detailtypografische Betrachtungen 01
Auch in der Gestaltung von und mit Schrift, der Rechtschreibung (des rechten Schreibens) sowie in der gesprochenen Sprache selbst, gibt es sich wandelnde Moden, verschiedene Stile und Stilblüten, ›Schulen‹, Trends, Hypes, Verschiebungen und Formumwandlungen … Sie kommen und gehen, Einzelnes bleibt eventuell bestehen; vieles verschwindet sang- und klanglos, anderes kehrt als ›Retro‹ wieder, ganz anderes überlebt vielleicht nur unbemerkt, als scheinbarer Anachronismus im Detail – allein von Interesse für Nostalgiker und Wehmütige. Mit den ›Detailtypografischen Betrachtungen‹ möchten wir künftig auf die vielen Kleinigkeiten schauen, die es auf dem Feld der Typo-Formen zu entdecken, zu entschlüsseln und zu lieben gibt. Den Anfang macht dieses ungewöhnliche ›w‹, das nicht so viel mit dem uns bekannten ›Doppel-V‹ bzw. ›Double-U‹ gemeinsam haben will.
Dieses ›w‹ ist mir im vorletzten Semester zuerst in François Truffauts »Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?« aufgefallen. Nachdem ich es dort das erste Mal erblickte, stolperte ich beim Lesen zunächst wieder und wieder darüber – ich konnte mich partout nicht daran gewöhnen und mein Geist wälzte parallel diverse Fragen dazu. Denn was mich am Schrifteinsatz im ›Truffaut-Hitchcock-Buch‹ wunderte, ist, dass dort das mir neue ›w‹ lediglich in der Minuskel-Form des kursiven Antiqua-Schnitts vorkommt und damit so gar nichts mit dem großen ›W‹ der Kursiven noch mit dem ›w‹ oder ›W‹ des Roman-Schnitts des Grundtextes gemein hat.
Ist dieses ›w‹ also eventuell ein Fehler oder unterliegt dessen Einsatz besonderen (mir unbekannten) Satzregeln? Ist es etwa eine alte, überkommene Form von einem ›w‹ oder gar eine neue Spielerei eines besonders modern wirken wollenden Typografen? Ist es eine Ligatur aus einem ›n‹ und einem ›v‹ oder eine ganz eigene Form?
Zunächst wusste ich gar nicht, wo ich anfangen sollte zu suchen, nachdem auch Dozenten und Typo-Kollegen die Kenntnis einer solchen ›w‹-Form verneinten. Und wieder einmal zeigte sich: Bloß, weil es einem nicht bewusst ist, weil man etwas nicht ad hoc erinnert, heißt es nicht, dass man es nicht doch vielleicht schon kannte, nur eben vielleicht aus anderen Zusammenhängen. Denn: Wie ein wenig Nachforschung zeigt, ist unser ›w‹ tatsächlich schlicht eine alternative Schreibform des doppel-v-förmigen ›w‹, und war in der Art früher sehr gebräuchlich, vor allem in den gebrochenen Schriften, wie folgende unvollständige Übersicht zeigt:
Ich dachte mir also: »Alles klar, die ›Gebrochenen‹ mal wieder!« Bei denen war schon so einiges anders, was uns heute einfach ungewohnt erscheint: ›Die‹ pflegten beispielsweise noch das lange ›s‹ parallel zum kurzen (manche von uns verwechseln es heute leider mal mit einem ›f‹) …
Das kleine ›x‹ so mancher Fraktur ähnelt dann auch eher unserem ›r‹ und überhaupt sah so mancher Buchstabe ganz anders aus, als wir es heute kennen; und so konnte damals das Wort ›Typografie‹ auch mal so ausschauen:
Wir wissen, wie bereits erwähnt: Die alten Römer (noch lange vor den Gebrochenen Schriften!) kannten gar kein geschriebenes ›W‹; ihr ›V‹ konnte sowohl ›W‹ oder ›V‹ in der Aussprache bedeuten. Erst später bekam das ›W‹ durch eben die Doppelung von ›V‹ respektive ›U‹ auch eine eigene grafische Form. Soweit zum Graphem ›W‹ und zu seiner uns geläufigen Gestalt eines Doppel-V. Aber auch seine andere, uns leider weniger geläufige Form lässt sich tatsächlich auf den Vorgang der V-Verdoppelung zurückführen, auch wenn es zunächst nicht so scheint. Die Lösung des ›Rätsels‹ steckt unter anderem in dieser Tafel, die uns Albert Kapr (1918–1995) hinterließ:
Auch das ›V‹ ist nicht mehr das, was es einmal war. Vor allem die oberste Zeile zeigt deutlich, dass offensichtlich auch schon unser ›V‹ graphemische Form-Wandlungen durchlaufen hat. Es fällt nun gleich leicht, sich unser ›W‹ als Zusammenziehung zweier ›V‹ vorzustellen, selbst wenn diese nicht wie exakte Kopien ihrerseits ausschauen. Man schreibe einfach selbst gern einmal das zweite Zeichen dieser Tafel und sogleich daran anknüpfend das erste … erst langsam und gerade, dann auch mal flüchtig schwungvoll, rechtsgeneigt … macht Spaß, nicht wahr!?!
Und so finden wir auch heute noch viele schöne Varianten dieser Form, wenn auch viel zu selten in klassisch gedruckter Form, sondern eher mehrdimensional, als Bereicherung des urbanen Raums:
Da gibt es nur noch eines was mich, nach wie vor, stutzen lässt: Wie um Himmels Willen ist diese Art von einem ›W‹ in eine Antiqua-Schrift gerutscht? Und warum denn nur allein als Minuskel in ihrem schrägen Schnitt; und nicht auch im geraden Schnitt; und nicht auch als Versal-Form? Und überhaupt: Warum konnte sich diese Form nicht auch in den lateinischen Schriften mehr durchsetzen und erscheint uns heute daher so fremd? Auf alles das habe ich noch keine eindeutige Antwort. Allein ich fand heraus, Arthur Schopenhauer schrieb einst ganz selbstverständlich jene andere Form (siehe hier in: »wollt«).
Daher also auch die Übernahme dieser Form für zumindest einen kursiven Antiqua-Schnitt, der sich ja auch direkt vom Handgeschriebenen ableitet?!
Die Schwere der Verifizierbarkeit soll die Existenzberechtigung dieses ›W‹ in keinem Fall schmählern. Ich bin im Gegenteil ziemlich glücklich ob dieser ›Entdeckung‹ und freue mich über die unendlichen Möglichkeiten, wie wir sie in der Typografie und der Schriftgestaltung immer wieder finden. Ich schaue also sehnsüchtig in die Zukunft und darauf, welche ›W‹-Formen uns die kommenden Schriftgestalter bescheren mögen.
Karsten Rohrbeck
2 Kommentare
Vielen Dank für diesen super interessanten Artikel! Echt spannend, was es im Bereich der Typografie noch alles zu entdecken gibt. Möge dem n-v w in Zukunft mehr Beachtung geschenkt werden.
Hach, ich als Buchstaben-Nerd bin begeistert von diesem Artikel! Danke.